Die Frage, ob derbe oder vulgäre Kritik am Arbeitgeber ausreicht, um eine Kündigung zu rechtfertigen, beschäftigt die Arbeitsgerichte seit vielen Jahren. Eine aktuelle Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf (Urteil vom 19.11.2025, Az. 3 SLa 699/24) zeigt eindrucksvoll, dass nicht jede grob formulierte Äußerung eine Kündigung trägt – vielmehr kommt es auf Zielrichtung, Kontext und Verhältnismäßigkeit an.
1. Rechtlicher Rahmen
Verhaltensbedingte Kündigungen richten sich im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nach § 1 Abs. 2 KSchG. Eine Kündigung ist nur dann sozial gerechtfertigt, wenn ein schuldhafter Pflichtverstoß des Arbeitnehmers vorliegt und mildere Mittel – insbesondere eine Abmahnung – nicht ausreichen, um die Vertragspflichtverletzung zukünftig zu unterbinden.
Bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen kommt auch eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB in Betracht. Auch hier verlangt die ständige Rechtsprechung eine umfassende Interessenabwägung sowie die Prüfung der Verhältnismäßigkeit.
Eine Kündigung – gleich ob ordentlich oder außerordentlich – ist immer nur das letzte Mittel (ultima ratio).
Beleidigungen gegenüber Vorgesetzten oder Kollegen können grundsätzlich einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund darstellen. Allerdings gilt ebenso: Nicht jede unsachliche oder vulgäre Äußerung erreicht die Schwelle einer kündigungsrelevanten Persönlichkeitsverletzung. Maßgeblich sind der konkrete Kontext der Äußerung, ihr Inhalt und ihre Zielrichtung.
2. Der Fall vor dem LAG Düsseldorf
Der Kläger war seit 2020 in einem Verteilzentrum tätig, zuletzt in der Dauernachtschicht. Bereits zuvor hatte der Arbeitgeber Abmahnungen ausgesprochen – unter anderem wegen unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes sowie wegen angeblicher Beleidigungen von Vorgesetzten.
Am 24. August 2024 kam es zu einem erneuten Konflikt mit einer neuen Vorgesetzten. Nach Darstellung des Arbeitgebers ignorierte der Kläger eine Arbeitsanweisung und äußerte sodann auf Türkisch sinngemäß: „Du hast die Mutter der Schicht gef…“. Der Kläger bestritt diese Formulierung und behauptete, er habe gesagt: „Du hast die Schichtmutter weinen lassen“, was sinngemäß eine Kritik an dem hohen Druck und der Belastung in der Schicht ausdrücken sollte.
Der Arbeitgeber kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.10.2024. Das Arbeitsgericht wies die Kündigungsschutzklage zunächst ab. In der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Düsseldorf hatte der Arbeitnehmer jedoch Erfolg.
3. Beweisaufnahme und Würdigung durch das LAG Düsseldorf
Das LAG führte eine umfangreiche Beweisaufnahme durch. Es wurden die Vorgesetzte, ein anwesender Kollege sowie der Schichtmanager als Zeugen vernommen. Am Ende ging das Gericht davon aus, dass der Kläger die Äußerung im Kern so getätigt hatte, wie es der Arbeitgeber behauptete – also in einer vulgären Formulierung.
Gleichwohl wertete das Gericht diese Äußerung nicht als schwerwiegende, persönlich herabwürdigende Beleidigung der Vorgesetzten. Vielmehr sah das LAG in der Aussage eine in vulgärer Sprache formulierte Kritik an der Art und Weise der Schichtführung. Die Kritik richtete sich damit nach der Überzeugung der Kammer primär gegen die Organisation und den Führungsstil, nicht gegen die Person der Vorgesetzten als solche.
Unter Berücksichtigung des Konfliktkontextes, des hohen Stresses in der Nachtschicht und der angespannten Situation kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Ausspruch einer Kündigung unverhältnismäßig war. Auch die zuvor erteilten Abmahnungen änderten hieran nichts, da das konkrete Verhalten des Klägers trotz vulgärer Wortwahl nicht die Schwelle zur kündigungsrelevanten Persönlichkeitsverletzung überschritten habe.
4. Analyse der Entscheidung
a) Zielrichtung der Äußerung
Ein zentrales Kriterium der Entscheidung ist die Zielrichtung der Äußerung: Richtet sich die Kritik gegen die Person der Vorgesetzten (z. B. als menschliche Herabwürdigung) oder gegen ihr Verhalten, also gegen Führungsstil, Organisation und Schichtplanung?
Das LAG Düsseldorf hat die Äußerung – trotz drastischer Wortwahl – als Sachkritik verstanden, die sich auf die „Schichtführung“ bezog. Damit wurde zwar der Ton als unangebracht eingestuft, aber nicht als derart persönlich diffamierend, dass eine Kündigung gerechtfertigt wäre. Für die Praxis bedeutet dies: Die arbeitsrechtliche Bewertung hängt maßgeblich davon ab, ob eine Aussage
als Sachkritik oder als persönliche Schmähung zu qualifizieren ist.
b) Kontext der Äußerung
Arbeitsgerichte berücksichtigen regelmäßig den konkreten Kontext einer Äußerung. Im vorliegenden Fall spielten u. a. folgende Faktoren eine Rolle:
- Konfliktsituation und emotional aufgeheizte Stimmung,
- hoher Arbeitsdruck in der Nachtschicht,
- sprachliche Besonderheiten (türkische Redewendung mit Missverständnispotenzial),
- kurze Eskalation ohne längere Vorgeschichte einer gezielten, systematischen Herabwürdigung.
In einer angespannten Situation ist eine einmalige Entgleisung anders zu bewerten als eine dauerhaft respektlose oder beleidigende Haltung. Das LAG hat diesen situativen Kontext ausdrücklich in seine Abwägung eingestellt.
c) Verhältnismäßigkeit
Die Entscheidung unterstreicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sowohl bei der ordentlichen Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG als auch bei der außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB gilt.
Selbst wenn man von einem Pflichtenverstoß ausgeht, muss geprüft werden, ob mildere Mittel – insbesondere eine (weitere) Abmahnung oder ein klärendes Personalgespräch – geeignet gewesen wären. Die Kündigung als schärfste arbeitsrechtliche Sanktion ist nur dann zulässig, wenn eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitgeber unzumutbar ist. Dies hat das Gericht hier verneint.
d) Vorbelastungen und Abmahnungen
Der Umstand, dass bereits Abmahnungen ausgesprochen worden waren, stärkt grundsätzlich die Position des Arbeitgebers. Dennoch ersetzt dies nicht die notwendige einzelfallbezogene Abwägung. Das LAG Düsseldorf hat betont, dass auch unter Berücksichtigung der Vorgeschichte die konkrete Äußerung nicht derart schwer wiegt, dass nur noch die Kündigung in Betracht gekommen wäre.
5. Weitere Rechtsprechung und Einordnung
Die Entscheidung fügt sich in eine Linie der Rechtsprechung ein, nach der nicht jede grobe oder unflätige Formulierung automatisch einen Kündigungsgrund darstellt. Die Gerichte prüfen stets:
- den Wortlaut der Äußerung,
- den Gesamtzusammenhang,
- die Dauer und Intensität des Fehlverhaltens,
- die bisherige Dauer und Störungsfreiheit des Arbeitsverhältnisses,
- mögliche Provokationen und Stresssituationen.
Auch das Bundesarbeitsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis eine umfassende Interessenabwägung erfordert. Selbst grobe Entgleisungen können – etwa bei langjähriger störungsfreier Beschäftigung und einmalig aufgeladenem Konflikt – unter Umständen noch mit einer Abmahnung geahndet werden, ohne dass eine sofortige Trennung erforderlich ist.
6. Praxistipps für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Das sollten Arbeitgeber und Arbeitnehmer wissen:
Für Arbeitgeber
- Prüfen Sie sorgfältig, ob eine Äußerung tatsächlich eine persönliche Beleidigung darstellt oder „nur“ eine derbe Sachkritik ist.
- Stellen Sie den Kontext fest: Konfliktsituation, Stress, sprachliche Besonderheiten und mögliche Missverständnisse.
- Ziehen Sie stets mildere Mittel (Abmahnung, Coaching, Gespräch) in Betracht, bevor Sie eine Kündigung aussprechen.
- Dokumentieren Sie den Vorfall sorgfältig, befragen Sie Zeugen und halten Sie den Ablauf genau fest.
- Bedenken Sie, dass eine rechtlich angreifbare Kündigung kostspielige Kündigungsschutzverfahren nach sich ziehen kann.
Für Arbeitnehmer
- Auch in Stresssituationen sollten Sie versuchen, Kritik möglichst sachlich zu formulieren. Vulgäre Sprache erhöht das Risiko arbeitsrechtlicher Konsequenzen.
- Kommt es zu Missverständnissen, etwa wegen fremdsprachiger Redewendungen, sollten Sie die Äußerung zeitnah erklären und klarstellen.
- Erhalten Sie eine Abmahnung oder Kündigung wegen angeblicher Beleidigung, lohnt sich häufig eine genaue rechtliche Prüfung des Einzelfalls.
- Im Rahmen einer Kündigungsschutzklage können der Kontext, Ihre bisherige Beanstandungsfreiheit und Ihre tatsächliche Zielrichtung der Kritik eine entscheidende Rolle spielen.
7. Fazit
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf macht deutlich: Vulgäre Kritik am Arbeitgeber oder an der Schichtführung ist nicht automatisch ein Kündigungsgrund.
Maßgeblich sind stets:
- die Zielrichtung der Äußerung (Sachkritik vs. persönliche Herabwürdigung),
- der konkrete Kontext (Konfliktsituation, Stress, Sprache),
- die bisherige Entwicklung des Arbeitsverhältnisses,
- und die strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit.
Arbeitgeber sollten daher nicht vorschnell zur Kündigung greifen, sondern sorgfältig prüfen, ob eine Abmahnung oder ein klärendes Gespräch ausreichen. Arbeitnehmer wiederum sollten sich bewusst sein, dass auch emotional zugespitzte Aussagen nicht zwingend das Ende des Arbeitsverhältnisses bedeuten – die Erfolgsaussichten einer Kündigungsschutzklage können in solchen
Konstellationen durchaus erheblich sein.
Wenn Sie in Ihrem Unternehmen oder als Arbeitnehmer mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert sind, empfiehlt sich eine frühzeitige rechtliche Beratung. Nur eine sorgfältige Einzelfallprüfung zeigt, ob eine Kündigung rechtlich Bestand haben kann oder ob gute Chancen bestehen, sich dagegen erfolgreich zu wehren.


