Die deutsche Justiz soll digitaler werden – so lautet zumindest der politische Anspruch. Mit den Reformen des § 128a ZPO und des neuen § 50a ArbGG hat der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt: Videoverhandlungen sollen den Justizbetrieb modernisieren, Effizienz erhöhen, die Teilnahme erleichtern und unnötige Reisen vermeiden. Doch in der gerichtlichen Praxis zeigt sich ein anderes Bild. Während manche Gerichte moderne Kommunikationswege längst selbstverständlich nutzen, begegnen andere der Videoverhandlung mit ausgeprägtem Skeptizismus – manchmal, so scheint es, auch mit einer gewissen Abwehrhaltung.
Der folgende Beitrag analysiert die Rechtslage, vergleicht die gesetzgeberischen Erwartungen mit der tatsächlichen gerichtlichen Handhabung und beleuchtet kritisch, warum die Digitalisierung in der Gerichtspraxis oft ausgerechnet an individuellen richterlichen Präferenzen scheitert.
Rechtlicher Rahmen: § 128a ZPO und § 50a ArbGG als Motor der Digitalisierung
Mit der Reform des § 128a ZPO im Jahr 2023 und der Einführung des § 50a ArbGG im Jahr 2024 hat der Gesetzgeber die Videoverhandlung deutlich gestärkt. Beide Normen verfolgen ein gemeinsames Ziel: Gerichte sollen moderne Technik nutzen, um Verfahren effizienter, zeit- und ressourcenschonender zu gestalten.
Der Wortlaut der Normen zeigt diese Zielrichtung deutlich:
- § 128a Abs. 1 ZPO erlaubt die Durchführung der mündlichen Verhandlung mittels Bild- und Tonübertragung. Nach der Reform heißt es nun ausdrücklich, dass bei übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten die Gestattung „in der Regel zu erfolgen hat“.
- § 50a ArbGG geht noch weiter: Eine mündliche Verhandlung findet als Videoverhandlung statt, sobald mindestens ein Verfahrensbeteiligter zugeschaltet wird – es sei denn, der Vorsitzende lehnt dies unter kurzer Begründung ab.
Damit war der Wille des Gesetzgebers klar: Videoverhandlungen sollen nicht Ausnahme, sondern realistische Alternative sein. Die Corona-Pandemie hatte eindrucksvoll gezeigt, dass Videoformate funktionieren – sogar in streitigen Verhandlungen und bei Zeugeneinvernahmen.
Die Realität vor Gericht: Ermessensspielräume werden zum Digitalisierungsbremsklotz
Wenngleich der Gesetzgeber nachsteuern wollte, blieb ein entscheidender Punkt unangetastet: Die Entscheidung über eine Videoverhandlung liegt weiterhin im „pflichtgemäßen Ermessen“ des Vorsitzenden – und ist gleichzeitig unanfechtbar (§ 128a Abs. 4 ZPO; § 50a Abs. 4 ArbGG).
Genau an dieser Schnittstelle zwischen richterlicher Unabhängigkeit und gesetzgeberischer Modernisierungsintention entzündet sich nun ein strukturelles Problem.
In der Praxis zeigt sich ein erstaunlich einheitliches Muster:
- Gerichte, die Videoverhandlungen befürworten, nutzen sie häufig und problemlos.
- Gerichte, die skeptisch sind, lehnen sie mit stereotypen Begründungen ab – oft unabhängig vom Verfahrensstadium oder der tatsächlichen Eignung.
Typische, nahezu formelhaft wiederkehrende Ablehnungsgründe lauten etwa:
- „Atmosphärische Beeinträchtigung der mündlichen Verhandlung“
- „Gefahr technischer Schwierigkeiten“
- „Notwendigkeit vertiefter Sachverhaltserörterung“
- „Vergleichsdiktate seien per Video schwierig“
Viele dieser Argumente wirken allerdings im Jahr 2025 kaum mehr zeitgemäß. Technik ist verfügbar, Leitfäden existieren, Behörden und Unternehmen arbeiten seit Jahren erfolgreich digital. Paradoxerweise verweist gerade die Justiz – die zentrale staatliche Konfliktlösungsinstanz – immer noch auf mögliche Mikrofonprobleme, als sei Digitalisierung ein exotisches Experiment.
Die Gesetzeslage und ihre gerichtliche Aushöhlung
Die Reform sollte eigentlich sicherstellen, dass Videotechnik genutzt wird. Doch mit der Unanfechtbarkeit der Entscheidung hat der Gesetzgeber den Richtern ein Instrument in die Hand gegeben, das die Reform de facto neutralisieren kann.
Ein Blick in die Rechtsprechung zeigt:
- Das OLG Stuttgart hat klargestellt, dass die Ablehnung einer Videoverhandlung grundsätzlich keinen Befangenheitsgrund begründet – selbst dann nicht, wenn sie mit pauschalen Argumenten erfolgt.
- Das LG Lübeck hat eine Beschwerde gegen die Ablehnung einer Videoverhandlung nicht nur als unzulässig verworfen, sondern der Anwältin sogar persönliche Kosten auferlegt.
- Mehrere Entscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit bestätigen: § 50a ArbGG ist unanfechtbar, und die inhaltliche Kontrolle beschränkt sich auf ein Minimum.
Damit entsteht ein System, in dem richterliche Präferenzen strukturell wichtiger sind als gesetzgeberische Modernisierungsziele. Wer Videoverhandlungen will, ist vom Zufall abhängig – je nachdem, welcher Richter oder welche Richterin die Akte bekommt.
Die absurde Situation: Kurze Gütetermine – lange Anreisen
Besonders augenfällig wird das Problem im Arbeitsrecht. Gütetermine dauern üblicherweise 10–15 Minuten, betreffen einfache Streitstände und dienen der Auslotung einer Einigung. Für diese Termine sind Videoformate aufgrund ihrer Struktur besonders geeignet.
Und dennoch lehnen manche Gerichte Videoverhandlungen selbst in solchen Güteterminen ab mit der Begründung, es müsse „umfangreich erörtert“ werden und Video sei „atmosphärisch ungeeignet“.
Wenn Anwälte zur Teilnahme an einer 10-minütigen Güteverhandlung mehrere 100 km anreisen müssen, ist der Widerspruch zwischen Normzweck und Praxis offensichtlich:
- Lebenszeit wird verschwendet,
- Kosten entstehen unnötig,
- Umweltbelastung steigt,
- Digitalisierung wird blockiert,
- und der Gesetzgeber wird – mit Verlaub – ignoriert.
Warum deutsche Gerichte hinterherhinken: Strukturen statt Technik sind das Problem
Deutschland verfügt über Technik, Leitfäden und die rechtlichen Grundlagen. Was fehlt, ist etwas anderes:
Digitalisierungsbereitschaft in der Richterschaft
Die Gerichte sind heterogen. Manche Richterinnen und Richter arbeiten selbstverständlich digital. Andere lehnen Videoformate aus grundsätzlichen Erwägungen ab.
Kein Recht der Parteien auf Videoverhandlung
Parteien können anregen, bitten, beantragen – aber nicht durchsetzen. Weder § 128a ZPO noch § 50a ArbGG gewähren ein subjektives Recht auf Durchführung einer Videoverhandlung.
Fehlende Transparenz bei der Ermessensausübung
Pauschale Ablehnungen sind in der Praxis ausreichend, obwohl eine einzelfallbezogene Abwägung vorgesehen ist. Verweise auf „Atmosphäre“, „Technikprobleme“ oder „Eignung des Falles“ bleiben oft unkonkret.
Keine Kontrolle des Ermessens
Die Unanfechtbarkeit nach § 128a Abs. 4 ZPO und § 50a Abs. 4 ArbGG verhindert jede Überprüfung, selbst bei erkennbar unzureichender Begründung.
Behördeninterne Trägheit
Die Justiz ist organisatorisch komplex und oft nur begrenzt innovationsfreudig. Ohne Druck von außen passiert wenig. Solange die Entscheidung zur Videoverhandlung im freien, nicht überprüfbaren Ermessen des Gerichts verbleibt, wird sich daran wenig ändern.
Muss der Gesetzgeber nachschärfen? – Eine berechtigte Frage
Die aktuelle Lage wirft die zentrale Frage auf:
Kann man die Digitalisierung der Justiz ernsthaft voranbringen, solange einzelne Richter Videoverhandlungen nach Belieben ablehnen dürfen?
Viele Stimmen aus der Anwaltschaft und aus der Wissenschaft sagen inzwischen klar: Nein.
Sinnvolle gesetzgeberische Optionen wären etwa:
- Ein gesetzlicher Anspruch auf Videoverhandlung, jedenfalls wenn alle Beteiligten einverstanden sind.
- Konkrete Begründungsstandards, die über Allgemeinplätze hinausgehen.
- Ein Beschwerderecht, um Ermessensmissbrauch zu verhindern.
- Verpflichtende Schulungen für Richterinnen und Richter zur Videotechnik.
- Verbindliche technische Ausstattungspflichten für Gerichte.
Nur mit echten rechtlichen Konsequenzen lässt sich verhindern, dass die Digitalisierung – wieder einmal – an der „richterlichen Ermessensschwelle“ stehenbleibt.
Fazit: Die Zukunft der Justiz scheitert nicht an Technik – sondern an Strukturen
Videoverhandlungen sind kein Experiment und keine Gefährdung der richterlichen Arbeit. Sie sind ein modernes, erprobtes Instrument, das Zeit, Kosten und Ressourcen spart, den Zugang zum Recht erleichtert und den Justizbetrieb zukunftsfähig macht.
Der Gesetzgeber hat mit § 128a ZPO und § 50a ArbGG einen wichtigen Schritt gemacht. Doch solange Gerichte das Instrument faktisch ignorieren oder durch stereotype Ablehnungen neutralisieren können, bleibt die Digitalisierung der Justiz ein Papiertiger.
Die zentrale Frage lautet daher: Will Deutschland wirklich eine moderne Justiz – oder bleibt die Gerichtswelt so lange analog, wie einzelne Richter das möchten?
Solange die Antwort offen bleibt, wird die Videoverhandlung ein Beispiel dafür bleiben, dass die digitale Transformation nicht an fehlender Technik scheitert, sondern an fehlender Entschlossenheit.


