Gerechtigkeit am Arbeitsplatz beginnt mit der fairen Entlohnung. Der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ – getragen vom Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und konkretisiert durch arbeitsrechtliche Regeln – verlangt nachvollziehbare Kriterien bei der Gehaltsfindung. In der Praxis bleiben Entgeltentscheidungen jedoch oft intransparent. Beschäftigte fragen dann: Darf ich vom Arbeitgeber Auskunft über die Gehälter oder zumindest über Gehaltserhöhungen meiner Kolleginnen und Kollegen verlangen, um eine mögliche Ungleichbehandlung zu prüfen?
Sachverhalt
Ein leitender Angestellter eines Versicherungskonzerns erhielt über mehrere Jahre keine oder nur geringe Gehaltserhöhungen. Unternehmensweit wurden zwar jährlich Budgets für Gehaltsrunden bereitgestellt, die Vorgesetzten nach eigenem Ermessen verteilen konnten – jedoch ohne transparente, überprüfbare Kriterien. Der Arbeitnehmer fühlte sich benachteiligt und erhob Stufenklage:
- Auskunft über den jeweils höchsten prozentualen Gehaltsanstieg innerhalb der Vergleichsgruppe der leitenden Angestellten für die Jahre 2019–2023,
- anschließend Zahlung der sich hieraus ergebenden Differenz.
Entscheidung
Das LAG Düsseldorf (Urteil vom 10.12.2024; 3 SLa 318/24) verurteilte den Arbeitgeber zur Auskunft. Rechtsgrundlage ist § 242 BGB (Treu und Glauben) in Verbindung mit dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Fehlt es an sachgerechten, erkennbaren Kriterien, spricht viel dafür, dass die Verteilung willkürlich war. In dieser Konstellation hat der benachteiligte Arbeitnehmer einen Auskunftsanspruch, damit er seine Leistungsansprüche beziffern kann.
Bemerkenswert ist der vom Gericht betonte Maßstab „nach ganz oben“: Um eine Ungleichbehandlung effektiv zu beseitigen, kann – bei bestätigter Benachteiligung – die höchste in der Vergleichsgruppe gewährte Erhöhung maßgeblich sein. Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Rechtslage: Wann besteht ein Auskunftsanspruch über Gehälter oder Gehaltserhöhungen?
1) Grundsatz: Keine Einsicht in individuelle Kollegengehälter
Arbeitnehmer haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Offenlegung konkreter Einzelgehälter von Kolleginnen oder Kollegen. Persönlichkeits- und Datenschutzrechte der Betroffenen sowie das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis des Arbeitgebers stehen einer personenbezogenen Offenlegung entgegen.
2) Auskunft aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) bei Verdacht auf Ungleichbehandlung
Ein Anspruch kann aus § 242 BGB folgen, wenn:
- für eine vergleichbare Gruppe (z. B. leitende Angestellte, Tarifgruppe, Funktionsebene) Gehaltsbudgets ohne klare, überprüfbare Kriterien verteilt werden,
- ein Arbeitnehmer konkret Tatsachen darlegt, die eine Benachteiligung plausibel machen (etwa ausbleibende oder signifikant unterdurchschnittliche Erhöhungen trotz vergleichbarer Leistung/Verantwortung),
- die begehrte Auskunft erforderlich ist, um einen möglichen Zahlungsanspruch zu prüfen und zu beziffern (z. B. höchster Erhöhungsprozentsatz in der Vergleichsgruppe).
In solchen Fällen kann die Auskunft gruppenbezogen und anonymisiert gestaltet sein (z. B. „höchster Prozentsatz“ statt Nennung von Namen oder Einzelgehältern).
3) Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG)
In Betrieben mit regelmäßig mehr als 200 Beschäftigten gewährt das Entgelttransparenzgesetz einen individuellen Auskunftsanspruch über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung sowie über das Vergleichsentgelt (z. B. Median) einer Vergleichstätigkeit. Die Auskunft erfolgt anonymisiert und zielt vorrangig auf die Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebots zwischen Frauen und Männern ab.
4) Rolle des Betriebsrats (BetrVG)
Der Betriebsrat hat nach § 80 Abs. 2 BetrVG Einsichtsrechte in Bruttolohn- und Gehaltslisten und nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG Mitbestimmungsrechte bei der betrieblichen Lohngestaltung. Er kann damit Transparenz fördern und Ungleichbehandlungen entgegenwirken, ohne individuelle Gehälter gegenüber einzelnen Arbeitnehmern offenzulegen.
Praxisleitfaden für Arbeitnehmer
- Vergleichsgruppe bestimmen: Tätigkeiten, Verantwortung, Qualifikation und Ebene sauber abgrenzen.
- Plausible Ungleichbehandlung darlegen: z. B. dauerhaft ausbleibende Erhöhungen trotz Zielerreichung, Leistungsbeurteilungen, Marktüblichkeit.
- Auskunft präzise beantragen: etwa den „höchsten prozentualen Erhöhungswert“ der relevanten Jahre innerhalb der Vergleichsgruppe.
- Datenschutz respektieren: keine Offenlegung von Namen oder Einzelgehältern verlangen, sondern gruppenbezogene, anonyme Kennwerte.
- Nach Auskunft beziffern: Zahlungsanspruch rechnerisch herleiten (Differenz zu „ganz oben“).
Praxisleitfaden für Arbeitgeber
- Kriterien definieren: Leistungs-, Markt- und Funktionskriterien schriftlich fixieren und konsistent anwenden.
- Dokumentation: Entscheidungen begründen (z. B. Performance-Matrix, Bandbreiten, Budgetlogik).
- Transparenz erhöhen: interne Leitlinien kommunizieren; bei Anfragen anonymisierte Kennwerte bereitstellen.
- Mitbestimmung beachten: Betriebsrat frühzeitig einbinden, Prozesse regeln.
- Compliance prüfen: Gleichbehandlungsgrundsatz, § 242 BGB, EntgTranspG und Datenschutz einhalten.
Fazit
Ein pauschales Recht auf Einsicht in individuelle Kollegengehälter besteht nicht. Wohl aber kann – bei fehlenden, erkennbaren Kriterien und einem plausiblen Verdacht der Ungleichbehandlung – ein Auskunftsanspruch aus § 242 BGB bestehen. Dieser richtet sich auf anonyme, gruppenbezogene Informationen, insbesondere den höchsten prozentualen Erhöhungswert in der Vergleichsgruppe, um eine mögliche Benachteiligung zu erkennen und zu beseitigen. Ergänzend eröffnet das Entgelttransparenzgesetz (ab 200 Beschäftigten) einen eigenständigen, anonymisierten Auskunftsanspruch. Für beide Seiten gilt: Je transparenter und dokumentierter die Vergütungslogik, desto geringer das Risiko rechtlicher Auseinandersetzungen – und desto größer die gelebte Gehaltsgerechtigkeit im Unternehmen.