In einem aufsehenerregenden Fall hat das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (Urteil vom 27.03.2025 – 2 SLa 253/24) einen Lkw-Fahrer bestätigt, der zwar zunächst vor dem Arbeitsgericht Kaiserslautern eine Zahlung für 572 Überstunden erstritten hatte, seinen Arbeitsplatz am Ende jedoch aufgrund einer Prozesslüge verlor. Der Beitrag beleuchtet den Sachverhalt, die Anspruchsgrundlagen für Überstunden, die Pflicht zur Rücksichtnahme aus § 241 Abs. 2 BGB sowie die arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zur sozial gerechtfertigten Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG.
1. Der Sachverhalt in Kürze
Der Fahrer hatte behauptet, seine insgesamt 572 Überstunden seien nicht vergütet worden und erhielt vor dem AG Kaiserslautern zunächst über 8.500 € zugesprochen. Parallel kündigte der Arbeitgeber ordentlich. Vor dem LAG bestätigten WhatsApp-Nachrichten, handschriftliche Zettel und übereinstimmende Zeugenaussagen aus der Unternehmerfamilie, dass der Fahrer seine Überstunden bar und „schwarz“ bei sonntäglichen Familienessen ausgezahlt erhalten habe. Die Kammer wertete die bewusst falsche Darstellung des Arbeitnehmers als erhebliche Pflichtverletzung i.S.d. § 241 Abs. 2 BGB und hielt die ordentliche Kündigung für sozial gerechtfertigt nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG.
2. Überstundenvergütung: Anspruchsgrundlagen und Nachweise
Nicht jede Mehrarbeit ist vergütungspflichtig.
2.1 Gesetzliche Anknüpfungspunkte
Vergütung setzt grundsätzlich einen Dienstvertrag voraus (§ 611 BGB). Ist die Höhe nicht vereinbart, bestimmt sich die Vergütung nach der üblichen oder der Billigkeit (§ 612 Abs. 1 BGB). Für Überstunden gilt: Werden sie vom Arbeitgeber veranlasst, gebilligt oder geduldet und überschreiten sie das Übliche, entsteht ein Vergütungsanspruch (§ 612 Abs. 2 BGB). Flankierend setzt das Arbeitszeitgesetz Grenzen, etwa in § 3 ArbZG (Höchstarbeitszeit).
2.2 Rechtsprechungsleitlinien zum Beweislastsystem
Die Rechtsprechung verlangt regelmäßig, dass der Arbeitnehmer sowohl die Leistung von Überstunden als auch deren Anordnung/Duldung darlegt und beweist; der Arbeitgeber muss dem substantiiert entgegentreten. Bekannt ist die Linie des BAG (z. B. Urt. v. 14.12.2011 – 5 AZR 686/10), wonach detaillierte Darlegung zu Zeitraum, Umfang und Anordnung/Duldung erforderlich ist. Vorliegend war die Klage zunächst erfolgreich; später erwies sich der Anspruch als bereits erfüllt – nur eben in bar und ohne Beleg.
2.3 Besonderheit „Barzahlung ohne Spuren“
Auch eine Barzahlung erfüllt einen Vergütungsanspruch. Fehlt jedoch Dokumentation (Quittung, Lohnabrechnung), verlagert sich der Streit auf den Zahlungseinwand. Die Beweisfrage steht im Zentrum: Gelingt dem Arbeitgeber der Nachweis einer Erfüllung, entfällt der Anspruch. Genau das sah das LAG hier als bewiesen an – gestützt auf Nachrichtenverläufe, Zeugenaussagen und das stimmige Gesamtbild der sonntäglichen Auszahlungen.
3. Prozesslüge als Pflichtverstoß: Rücksichtnahmepflicht und Kündigung
Verstoß gegen prozessuale Wahrheitspflicht kostet am Ende den Job,
3.1 Erhebliche Verletzung von § 241 Abs. 2 BGB
Arbeitnehmer schulden loyales Verhalten und Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers. Die bewusste Falschbehauptung im Prozess – hier: Nichtzahlung bereits erhaltener Überstunden – stellt eine gravierende Pflichtverletzung nach § 241 Abs. 2 BGB dar. Das zerstört Vertrauen und beeinträchtigt das Arbeitsverhältnis nachhaltig.
3.2 Sozial gerechtfertigte Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG
Eine verhaltensbedingte Kündigung ist sozial gerechtfertigt, wenn dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG). Trotz hoher Sozialdaten (Alter knapp 60, verwitwet) überwog hier die Schwere der Pflichtverletzung. Gerade weil der Arbeitnehmer das Unternehmen zu einer (weiteren) Zahlung verurteilen ließ, obwohl die Überstunden zuvor bar abgegolten worden waren, sah das LAG das Vertrauensverhältnis als irreparabel gestört.
3.3 Prozessverhalten als Kündigungsgrund in der Linie der BAG-Rechtsprechung
Die Bewertung schließt an die BAG-Linie an, wonach prozessuales Fehlverhalten – insbesondere arglistige Falschangaben – einen Kündigungsgrund darstellen kann (vgl. etwa BAG, Urt. v. 18.12.2014 – 2 AZR 265/14). Das LAG hat die vorgelegten WhatsApp-Nachrichten und Zeugenaussagen als so belastbar gewürdigt, dass eine andere Sicht nicht plausibel war.
4. Das „Paradox“: Prozessgewinn und Arbeitsplatzverlust
Bemerkenswert ist die Asynchronie der Verfahren: Der Fahrer gewann die Zahlungsklage zunächst, verlor aber – im Parallelverfahren – den Bestandsschutz, weil die Wahrheit ans Licht kam. Ergebnis: Der – formal – erfolgreiche Zahlungsprozess wurde durch die arbeitsrechtlichen Konsequenzen „neutralisiert“; zugleich wies das LAG die Überstundenklage (in der Berufung) auf der Tatsachengrundlage bezahlter Überstunden ab.
5. Praxishinweise
5.1 Für Arbeitgeber
- Dokumentation: Barzahlungen vermeiden oder jedenfalls quittieren. Ohne Belege drohen spätere Beweisrisiken.
- Compliance: „Schwarzgeld“-Praktiken sind rechtlich und straf- wie beitragsrechtlich hoch riskant; sie sollten unterbleiben.
- Kündigungsprüfung: Bei bewiesener Prozesslüge ist eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht zu ziehen – stets mit sorgfältiger Interessenabwägung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG.
5.2 Für Arbeitnehmer
- Wahrheitspflicht: Unzutreffende Angaben im Prozess gefährden den Arbeitsplatz wegen Verstoßes gegen § 241 Abs. 2 BGB.
- Nachweise: Überstunden stets sauber dokumentieren (Stundenzettel, elektronische Aufzeichnungen, Zeugen).
- Vor Klageerhebung: Prüfen, ob (teilweise) Zahlungen erfolgt sind – insbesondere Bar- oder „Küchentisch“-Zahlungen – um Rückforderungs-/Erfüllungseinwände zu antizipieren (§ 612 Abs. 2 BGB).
6. Einordnung der Entscheidung
Nach den öffentlich verfügbaren Informationen stützt sich das Urteil auf ein dichtes Beweisgeflecht (Zeugenaussagen mehrerer Familienmitglieder, Chat-Verläufe, Zettel). Selbst wenn gegen einzelne Zeugen Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage anhängig sind, hat die Kammer den Gesamtbefund als glaubhaft und konsistent gewürdigt. Die Selbstbelastung des Unternehmens in straf-/beitragsrechtlicher Hinsicht verlieh den Aussagen zusätzliches Gewicht.
7. Fazit
Der Fall unterstreicht eindrucksvoll zwei Kernbotschaften: Erstens sind Überstunden grundsätzlich vergütungsfähig – gestützt auf § 611 BGB und § 612 BGB sowie flankiert von den Grenzen des ArbZG. Zweitens ist die Wahrheitspflicht im Arbeitsverhältnis und im Prozess zentral: Eine bewusste Falschdarstellung verletzt die Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB in erheblicher Weise und kann eine verhaltensbedingte, sozial gerechtfertigte Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG tragen. Für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer gilt: Transparenz, saubere Dokumentation und rechtstreues Vorgehen sind nicht nur „nice to have“, sondern entscheiden im Zweifel über Geld – und Job.
8. Eigene Bewertung
Die Entscheidung setzt ein klares Signal: Auch ein (zunächst) gewonnener Zahlungsprozess legitimiert kein illoyales Verhalten. Das LAG überzeugt, weil es den Beweiswert der Indizien sorgfältig zusammenführt und die Abwägung zwischen den Sozialdaten des Arbeitnehmers und der Schwere der Pflichtverletzung nachvollziehbar zugunsten der Kündigung auflöst. Für die Praxis ist die Botschaft deutlich: Wer mit nicht dokumentierten Barzahlungen arbeitet, lädt spätere Beweis- und Compliance-Risiken ein; wer im Prozess die Unwahrheit sagt, riskiert das Ende des Arbeitsverhältnisses.


