Im Zivilprozess gilt der sog. Beibringungsgrundsatz. Dies bedeutet jede Partei muss die für sie günstigen Tatsachen darlegen und beweisen. Wem dies nicht gelingt, der bleibt, wie der Jurist sagt, „beweisfällig“ und verliert den Rechtsstreit. Ein in der Praxis beliebtes Beweismittel sind dabei Zeugen. Auch wenn vom Grundsatz her eine prozessuale Wahrheitspflicht gilt, also Parteien nicht unwahr vortragen und Zeugen nicht falsch aussagen dürfen, wird gleichwohl nirgendwo so viel gelogen wie vor Gericht. Gerichte stehen also stets vor dem Dilemma den Aussagen von Zeugen zu glauben oder diese aber kritisch zu hinterfragen. Da Letzteres nach den Erfahrungen des Verfassers in der Praxis viel zu selten vorkommt, ist das nachfolgende Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen bemerkenswert. Ein Arbeitgeber hatte 3 Zeugen dafür aufgeboten, die allesamt ausgesagt hatten, dass der Arbeitgeber der klagenden Arbeitnehmerin die Kündigung übergeben hatte. Gleichwohl hielt das Gericht die Kündigung für unwirksam, weil der Arbeitgeber deren Zugang nicht zu seiner Überzeugung hinreichend nachgewiesen hatte.
Wann Zeugenaussagen überzeugen – und wann nicht
Die Zeugenaussage ist eines der klassischen Beweismittel im deutschen Zivilprozess – und doch ist ihre Beweiskraft nicht grenzenlos. Immer wieder stellt sich die Frage: Muss ein Gericht einem Zeugen glauben, nur weil dieser angeboten und angehört wird? Die Antwort: Nein – jedenfalls nicht blindlings. Ein aktuelles Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen ((Urteil vom 26.05.2025 – 4 SLa 442/24) zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass selbst drei übereinstimmende Aussagen nicht ausreichen müssen, wenn sie das Gericht nicht überzeugen.
Beweislast – wer muss was beweisen?
Im Zivil- und Arbeitsrecht trägt grundsätzlich die Partei die Beweislast, die aus einer behaupteten Tatsache eine für sie günstige Rechtsfolge ableitet. Im Falle einer Kündigung ist das regelmäßig der Arbeitgeber: Er muss nachweisen, dass die Kündigungserklärung dem Arbeitnehmer zugegangen ist, also so in seinen Machtbereich gelangte, dass unter normalen Umständen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen war (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Misslingt dieser Nachweis, bleibt es dabei: Keine wirksame Kündigung – kein Ende des Arbeitsverhältnisses.
Zeugenbeweis – Aussage ist nicht gleich Wahrheit
Eine der häufigsten Methoden, Tatsachen zu beweisen, ist der sogenannte Zeugenbeweis (§ 373 ZPO). Ein Zeuge berichtet vor Gericht, was er selbst wahrgenommen hat – idealerweise ohne Einfärbung, Erinnerungslücken oder bewusste Manipulation.
Doch genau das ist in der Praxis häufig problematisch. Die Erinnerung kann trügen. Aussagen können – bewusst oder unbewusst – auf die gewünschte Wirkung hin angepasst werden. Und: Zeugen stehen nicht selten in einem Näheverhältnis zur beweisführenden Partei, was ihre Unabhängigkeit einschränken kann.
Die richterliche Beweiswürdigung – Freiheit mit Grenzen
Ob das Gericht einem Zeugen glaubt, entscheidet es im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO). Es muss sich eine Überzeugung bilden – allerdings eine, die nachvollziehbar ist und mit allgemeinen Denk- und Erfahrungssätzen sowie den Erkenntnissen der Wissenschaft, insbesondere der Aussagepsychologie, im Einklang steht.
Das bedeutet: Der Richter darf einer Aussage nicht einfach glauben, weil sie plausibel klingt oder weil viele sie stützen. Vielmehr muss er kritisch prüfen, ob die Aussage auch wahr ist – und dafür sind Detailtiefe, Spontaneität, Widerspruchsfreiheit, Individualität und emotionale Reaktionen zentrale Kriterien.
Drei Zeugen – keine Überzeugung
Ein aktueller Fall vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen verdeutlicht diese Anforderungen exemplarisch. Eine Bürokraft bestritt, jemals eine Kündigung erhalten zu haben. Der Arbeitgeber hingegen behauptete, die Kündigung in Anwesenheit von drei Zeugen übergeben zu haben.
Was zunächst nach einem klaren Beweisangebot klingt, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als brüchig. Das Gericht lehnte es ab, den Zeugen zu glauben – mit ausführlicher Begründung:
Zu einheitlich, zu glatt, zu steril
Die Aussagen stimmten in ihren Kernaussagen zu exakt überein – ein klassischer Hinweis auf abgesprochene Versionen. Aussagepsychologisch gilt: Wahrnehmungen unterscheiden sich naturgemäß, insbesondere bei komplexeren Ereignissen. Fehlen individuelle Unterschiede, wird der Verdacht von „abgestimmten Aussagen“ stark.
Emotionslosigkeit
Das Gericht vermisste jede Beschreibung der Reaktion der Gekündigten – ein ungewöhnlicher Befund, denn eine Kündigung ist regelmäßig ein hoch emotionales Ereignis. Die Abwesenheit solcher Schilderungen wirkte aus Sicht der Kammer lebensfremd.
Keine inneren Widersprüche, aber auch keine Tiefe
Die Aussagen wirkten mechanisch. Gerade bei wichtigen Geschehnissen liefern glaubwürdige Zeugen oft auch spontane, unstrukturierte Erinnerungsdetails – nicht so hier.
Die Konsequenz: Die Kündigung war mangels Zugangs nicht wirksam – das Arbeitsverhältnis bestand fort.
Erkenntnisse aus der Aussagepsychologie – und ihre Rolle im Zivilprozess
Was im Strafverfahren längst Standard ist, hält auch im Zivil- und Arbeitsrecht zunehmend Einzug: die Anwendung aussagepsychologischer Erkenntnisse. Diese zielen darauf ab, festzustellen, ob eine Aussage auf einem realen Erlebnis basiert oder konstruiert ist.
Typische Merkmale wahrer Aussagen
- Detailreichtum (auch mit irrelevanten Informationen)
- innere Widersprüche, die plausibel erklärt werden
- Individuelle Perspektive der Wahrnehmung
- emotionale Einfärbung, insbesondere bei einschneidenden Ereignissen
Im vorliegenden Fall fehlte es an all dem. Das LAG betonte ausdrücklich, dass die Aussagen „zu steril“ und „zu einheitlich“ seien – ein Paradebeispiel dafür, dass Zeugenaussagen nicht automatisch geglaubt werden dürfen.
Die Realität der gerichtlichen Praxis: Glauben oder nicht glauben?
So beeindruckend diese Entscheidung auch ist – sie stellt eine Ausnahme dar. Denn nach langjähriger Erfahrung des Verfassers gilt: Gerichte neigen grundsätzlich dazu, angebotenen Zeugen Glauben zu schenken, sofern keine gewichtigen Zweifel bestehen. Dies auch, um nicht gezwungen zu sein, ein Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage einzuleiten – was nicht nur aufwändig, sondern für alle Beteiligten unangenehm ist.
Das führt in der Praxis oft dazu, dass Aussagen auch dann verwertet werden, wenn ihre Belastbarkeit eher gering erscheint. Gerade bei widersprechenden Zeugenaussagen wird oft jedem Zeugen gleich viel geglaubt, so dass am Ende die Partei verliert, die die Beweislast trägt.
Fazit: Die Wahrheit ist nicht verhandelbar – aber beweispflichtig
Der Fall des LAG Niedersachsen ist ein Lehrstück für alle Prozessbeteiligten. Er zeigt: Zeugenaussagen sind kein Freifahrtschein zur Beweisführung. Wer vor Gericht überzeugen will, braucht mehr als bloße Wortidentität – er braucht lebensnahe, individuelle, glaubhafte Schilderungen.
Gleichzeitig erinnert die Entscheidung daran, dass Gerichte nicht verpflichtet sind, jeder Aussage zu glauben – auch dann nicht, wenn sie von mehreren Personen gestützt wird. Das Gericht hat die Pflicht, sorgfältig zu prüfen und darf sich nur dann überzeugen, wenn die Aussage überzeugt – mit allem, was an Realität, Widersprüchen und Menschlichkeit dazugehört.
Für die Prozesspraxis bedeutet dies: Weniger ist manchmal mehr. Qualität vor Quantität. Und: Zeugen sollten sorgfältig ausgewählt und gut vorbereitet sein, ohne jedoch „trainiert“ zu wirken – denn gerade das macht sie im Zweifel unglaubwürdig.
Auch, wenn keineswegs sicher ist, dass der Fall ebenso entschieden worden wäre, wenn er auf einem anderen Schreibtisch gelandet wäre, sollten Arbeitgeber, um ein solches Beweisdilemma zu vermeiden, sich bei persönlicher Übergabe der Kündigung den Erhalt vom Empfänger quittieren lassen. Dann besteht kein Raum für Diskussionen darüber, ob die Kündigung zugegangen ist oder nicht.