Hinweis: Dieser Artikel wurde nach einem Leserhinweis am 30.08.2025 inhaltlich überarbeitet und präzisiert. Die Verweise auf die maßgebliche Rechtsgrundlage wurden aktualisiert.
Die Frage, ob Kinder für ihre Eltern zahlen müssen, wenn diese Sozialhilfeleistungen beziehen, beschäftigt viele Familien. Seit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz von 2020 gilt eine zentrale Einkommensgrenze: Nach § 94 Abs. 1a SGB XII werden Unterhaltsansprüche gegenüber Kindern nur dann berücksichtigt, wenn deren Jahreseinkommen über 100.000 € liegt. Diese Regelung gilt für alle Leistungen nach dem SGB XII – also sowohl für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII) als auch für die Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII).
Die 100.000-€-Grenze und die Vermutungsregelung
Die Details sind in § 94 Abs. 1a SGB XII geregelt:
- Unterhaltsansprüche gehen nicht auf den Sozialhilfeträger über, wenn das Einkommen ≤ 100.000 € beträgt (Abs. 1a S. 1 und 2).
- Es gilt die gesetzliche Vermutung, dass das Einkommen diese Grenze nicht überschreitet (Abs. 1a S. 3).
- Der Sozialhilfeträger trägt die Beweislast, wenn er eine Überschreitung geltend machen will. Auskünfte darf er nur bei konkreten Hinweisen verlangen (Abs. 1a S. 4–5).
Die Vermutungsregelung war ursprünglich darauf ausgerichtet, sogenannte „verschämte Altersarmut“ zu verhindern: Menschen sollten nicht aus Angst, ihre Kinder könnten in Anspruch genommen werden, davon abgehalten werden, Grundsicherung zu beantragen. Heute dient sie auch der Entlastung der Angehörigen, indem schon aufwändige Ermittlungen durch die Sozialhilfeträger erschwert werden. Zudem wollte der Gesetzgeber mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz ein Signal für die Stärkung des familiären Zusammenhalts setzen.
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Bezieht ein Elternteil Leistungen der Grundsicherung, gilt die 100.000-€-Grenze uneingeschränkt. Zwar könnte bei einem Einkommen der Kinder über dieser Grenze formal ein Rückgriff erfolgen, in der Praxis geschieht dies jedoch kaum. Die Grundsicherung ist eine bedingungslose Mindestversorgung und soll sicherstellen, dass niemand im Alter oder bei dauerhafter Erwerbsminderung aus Rücksicht auf die Kinder auf Leistungen verzichtet. Der Regress spielt hier daher praktisch eine untergeordnete Rolle.
Hilfe zur Pflege / Heimunterbringung
Anders verhält es sich, wenn Eltern pflegebedürftig werden und Leistungen der Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen. Auch hier gilt die 100.000-€-Grenze. Anders als bei der Grundsicherung machen die Sozialhilfeträger den Anspruch bei einem Einkommen über dieser Schwelle jedoch regelmäßig geltend, weil die Pflegekosten für Heimunterbringung oder ambulante Betreuung sehr hoch sind. Hier wird die Regelung also mit größerer Konsequenz angewendet.
Beispiel
- Phase 1: Grundsicherung
Die Mutter bezieht Grundsicherung. Der Sohn verdient 150.000 € im Jahr. Ergebnis: Formal könnte ein Rückgriff geprüft werden (§ 94 Abs. 1a SGB XII), in der Praxis wird er jedoch nicht verfolgt. - Phase 2: Pflegeheim
Später zieht die Mutter ins Pflegeheim. Der Sohn verdient weiterhin 150.000 €. Ergebnis: Der Sozialhilfeträger fordert nun regelmäßig Unterhaltszahlungen, da die Einkommensgrenze überschritten ist und hohe Kosten anfallen.
Welche Einkünfte zählen?
Für die Prüfung der 100.000-€-Grenze sind sämtliche Einkünfte nach § 16 SGB IV relevant, insbesondere:
- Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (Löhne, Gehälter)
- Einkünfte aus selbstständiger Arbeit
- Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
- Kapitalerträge (Dividenden, Zinsen, Wertpapierverkäufe)
- Sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG
Kindergeld zählt nicht zum Einkommen. Auch das Vermögen der Kinder (z. B. Immobilien, Ersparnisse) bleibt grundsätzlich unberührt – nur die daraus erzielten Erträge gelten als Einkommen.
Fazit
- Unter 100.000 € Einkommen: Keine Haftung – weder bei Grundsicherung noch bei Pflegeleistungen.
- Über 100.000 € Einkommen: Regress ist rechtlich möglich. In der Grundsicherung wird er praktisch kaum betrieben, bei Pflegeleistungen dagegen regelmäßig und mit hoher finanzieller Relevanz.
Die § 94 Abs. 1a SGB XII bildet die zentrale Grundlage. Sie sorgt für klare Grenzen, entlastet die große Mehrheit der Kinder und setzt zugleich ein Signal: Die staatliche Hilfe soll nicht dazu führen, dass Familien durch Angst vor Rückgriffen auseinandergerissen werden.
Besserverdienende – also Personen mit einem Jahreseinkommen über 100.000 Euro – tragen eine doppelte finanzielle Last: Sie zahlen nicht nur den Spitzensteuersatz und den Solidaritätszuschlag, sondern müssen im Fall einer Heimunterbringung ihrer Eltern auch mit einer zusätzlichen Inanspruchnahme durch den Sozialhilfeträger rechnen. Dabei wird nicht unterschieden, wie das Einkommen erzielt wurde: Wer die Einkommensgrenze durch regelmäßige 60-Stunden-Wochen überschreitet, wird rechtlich genauso behandelt wie jemand, der mit einer Teilzeitstelle auf dasselbe Einkommen kommt. Das geltende Recht setzt damit keinen Anreiz zur besonderen Leistungsbereitschaft.